Kann es ein "Jalta 2.0" geben? – Russischer Historiker spricht Klartext

© FotoKonferenz der Anti-Hitler-Koalition in Jalta
Konferenz der Anti-Hitler-Koalition in Jalta  - SNA, 1920, 15.02.2023
Mitte Februar 1945 wurden auf der Konferenz der Anti-Hitler-Koalition in Jalta Grundzüge der europäischen Nachkriegsordnung festgelegt. Dies war laut dem prominenten russischen Historiker, dem wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Weltgeschichte Moskau, Alexander Tschubarjan, das Ergebnis von Kompromissen und gegenseitigen Zugeständnissen.
Wie er bei einem Pressegespräch sagte, bestehe die Bedeutung des entstandenen Jalta-Systems darin, dass es die sogenannte bipolare Welt etabliert habe. „Das heißt, die beiden Supermächte, die USA und die Sowjetunion, haben trotz vieler Differenzen dazu beigetragen, die Welt vor dem Dritten Weltkrieg und einer Atom-Katastrophe zu bewahren. Die Vereinbarungen von Jalta trugen dazu bei, die Entstehung eines Phänomens wie des Nationalsozialismus zu verhindern, unter dem die gesamte Menschheit litt. Und dies vereinigte alle.“
Auf die Frage unseres Korrespondenten, ob es möglich sei, Jalta zu wiederholen, sagte Tschubarjan, dass es heute nur ein Symbol der neuen Weltordnung sein könne. „Dies sollte auf anderen Grundlagen aufgebaut werden, auf der Idee, einvernehmliche Lösungen zu finden. Die Hauptsache könnte die Anerkennung des souveränen Rechts jedes Landes sein, die Form seiner eigenen Entwicklung zu wählen und seine Werte zu wahren.“
Das zweite Prinzip sei eine Abkehr von der Idee der Existenz von Supermächten, die allen anderen ihre Bedingungen diktieren könnten, so der Historiker.
„Das dritte Grundprinzip sollte darin bestehen, die Interessen verschiedener Länder zu berücksichtigen. Und schließlich die Einsicht in die Gefahr, die der ganzen Welt droht. Vor zwei Jahren stand man vor der Covid-Pandemie. Es ist im Allgemeinen gelungen, sie gemeinsam zu überwinden. Aber das hat uns nicht dazu gebracht zu sagen, wir werden nicht mehr streiten, wir werden uns einigen, zusammen zu kämpfen.“

Sind die USA Sieger im Kalten Krieg?

Akademiemitglied Tschubarjan weiter: „Die USA müssen das Postulat der frühen 90er Jahre aufgeben, sie hätten den Kalten Krieg gewonnen und könnten als Sieger ihre Bedingungen diktieren. Erstens ist es ein strittiger Punkt über Gewinner und Verlierer. Natürlich konnte die Sowjetunion der Last, die auf sie fiel, nicht standhalten. Aber ihr Zusammenbruch hatte andere Gründe. Sie standen nicht in direktem Zusammenhang mit der Konfrontation mit den USA. Das ist das Erste.
Zweitens bleibt Russland die führende Atomwaffenmacht, bleibt ein Land mit hochentwickelter Wirtschaft und geopolitischen Interessen. Sein Platz in der modernen Welt wird nicht durch die Wünsche der Nachbarn bestimmt, sondern durch die gesamte Geschichte Russlands und alle Erfahrungen des Landes.“

Ist die monopolare Weltordnung am Ende?

Tschubarjan macht darauf aufmerksam, dass dem Ende der bipolaren Welt der Zusammenbruch der Sowjetunion vorausgegangen war. „Die USA haben erklärt, dass sie den Kalten Krieg gewonnen haben und nun ein neues System für amerikanische Eliten errichten müssen. Aber die Entwicklung der Ereignisse zeigt, dass es gegenwärtig eine Krise der liberalen Weltordnung gibt. Die Welt steht vor der Notwendigkeit, neue Ansätze zu entwickeln. Diese zentrale Aufgabe wird durch die unglaublich schwierige Situation im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine erschwert, wo Russland tatsächlich der Nato und der gesamten westlichen Welt gegenübersteht.“
Geopolitisch habe sich die Situation inzwischen grundlegend geändert, fährt der Historiker fort.
„Konnte man früher von der untergeordneten Rolle Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ausgehen, so sind sie heute die wichtigsten Faktoren der Weltordnung. In Bezug auf die Bevölkerungszahl, die Wirtschaft und den Prozentsatz des Bruttonationaleinkommens. Sie spielen eine immer größere Rolle. Jetzt gibt es einen neuen internationalen Zusammenschluss im eurasischen Raum – der BRICS, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der jetzigen GUS und der Organisation für Afrikanische Einheit. Der Einfluss der ASEAN in Südostasien nimmt zu. All dies ändert die Gesamtkonfiguration.“

Voraussetzungen einer neuen Weltordnung

Die Hauptsache sei, die Ansprüche der USA und ihrer Verbündeten auf monopolistischen Einfluss in der Welt zu überwinden, ist sich Tschubarjan sicher.
„Man muss sich von einer unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt bewegen, wo es keine Supermächte gibt. Gefragt ist eine neue Weltordnung – ein Konglomerat verschiedener Mächte, die die Weltpolitik beeinflussen.“
Dies werde durch die Situation der letzten Jahre erschwert, stellt der Historiker fest, verbunden mit einer harten Konfrontation zwischen dem kollektiven Westen und Russland, mit zahlreichen Sanktionen, dem Vorgehen der Ukraine und so weiter. „Vor einem Jahr bot Russland den USA an, eine ganze Reihe von Sicherheitsgarantien zu übernehmen, die sowohl für Russland als auch für westliche Länder gelten sollten. Verhandlungen zu diesem Thema wurden jedoch abgelehnt. Die Schaffung einer neuen Weltordnung ist kein einfacher Prozess. Dazu bedarf es des entsprechenden Willens sowie des Verständnisses der westlichen Länder für die Notwendigkeit, abgestimmte Lösungen zu finden.“
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