Fahrplan für den Ukraine-Konflikt war noch 2000 vorprogrammiert – Ex-MdB Wimmer
19:19 26.01.2023 (aktualisiert: 19:20 26.01.2023)
© SNA / Михаил ВоскресенскийWilly Wimmer

© SNA / Михаил Воскресенский
Im Mai 2000 schrieb Willy Wimmer, damals Mitglied des Bundestages (CDU) und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, einen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. In diesem Brief berichtete er über eine Konferenz in Bratislava mit den Schwerpunktthemen Balkan und NATO-Erweiterung.
Die Konferenz wurde gemeinsam vom US-Außenministerium und American Enterprise Institute (außenpolitisches Institut der republikanischen Partei) veranstaltet. „Es war der Fahrplan für den Krieg in der Ukraine“ und ist wegen seiner Aktualität auch heute ganz interessant, sagt Wimmer.
In dem Brief hieß es unter anderem:
„Die Veranstaltung war sehr hochrangig besetzt, was sich schon aus der Anwesenheit zahlreicher Ministerpräsidenten sowie Außen- und Verteidigungsminister aus der Region ergab. Von den zahlreichen wichtigen Punkten, die im Rahmen der vorgenannten Themenstellung behandelt werden konnten, verdienen es einige besonders wiedergegeben zu werden:
1.
Von Seiten der Veranstalter wurde verlangt, im Kreise der Alliierten eine möglichst baldige völkerrechtliche Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo vorzunehmen.2.
Vom Veranstalter wurde erklärt, dass die Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb jeder Rechtsordnung, vor allem der Schlussakte von Helsinki, stehe.3.
Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.4.
Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.5.
Die europäischen Verbündeten hätten beim Krieg gegen Jugoslawien deshalb mitgemacht, um de facto das Dilemma überwinden zu können, das sich aus dem im April 1999 verabschiedeten “Neuen Strategischen Konzept” der Allianz und der Neigung der Europäer zu einem vorherigen Mandat der UN oder OSZE ergeben habe.6.
Unbeschadet der anschließenden legalistischen Interpretation der Europäer, nach der es sich bei dem erweiterten Aufgabenfeld der NATO über das Vertragsgebiet hinaus bei dem Krieg gegen Jugoslawien um einen Ausnahmefall gehandelt habe, sei es selbstverständlich ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde.7.
Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wiederherzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei.8.
Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.9.
Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St. Petersburg zur Ostsee zu erhalten.10.
In jedem Prozess sei dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts zu geben.11.
Die Feststellung, nach der die NATO bei dem Angriff gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe, stieß nicht auf Widerspruch.Nach dieser sehr freimütig verlaufenen Veranstaltung kommt man in Anbetracht der Teilnehmer und der Veranstalter nicht umhin, eine Bewertung der Aussagen auf dieser Konferenz vorzunehmen.
Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von zwei Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll vor Recht gehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.“