Wegen Hunger und Schulden: Immer mehr Afghanen „verheiraten“ ihre Töchter für Mitgift
11:47 23.11.2021 (aktualisiert: 12:09 23.11.2021)
© AFP 2022 / Hector RetamalMädchen stehen neben einem Gebäude in Sharan im Südosten Afghanistans am 16. November 2021

© AFP 2022 / Hector Retamal
Seit der Machtübernahme der Taliban* hat die Zahl der Kinderehen in Afghanistan parallel zur steigenden Armut zugenommen. Darüber informiert die Thomson Reuters Foundation am Dienstag.
Die Wohltätigkeitsorganisation der Nachrichtenagentur veranschaulichte das Problem am Beispiel des afghanischen Ziegelofen-Arbeiters Fazal, der eine Mitgift in Höhe von 3000 US-Dollar erhielt, nachdem er seine 13 und 15 Jahre alten Töchter an Männer übergeben hatte, die mehr als doppelt so alt waren wie sie. Fazal sagte, dass der Zusammenbruch der Wirtschaft in seinem Land ihn vor die Wahl gestellt habe, seine jungen Töchter zu verheiraten oder die Familie dem Risiko auszusetzen, zu verhungern.
„Ich hatte keine andere Möglichkeit, meine Familie zu ernähren und meine Schulden zu begleichen“, so Fazal.
Nach seinen Worten zeichnete sich das Problem mit dem Anfang der Wirtschaftskrise ab, die die Bauarbeiten in Afghanistan zum Stillstand brachte. Wie die anderen Arbeiter erhielt Fazal normalerweise einen Vorschuss in Höhe von 1000 US-Dollar für sechs Monate Arbeit. Da die Nachfrage nach Ziegeln nachließ, forderte sein Chef ihn auf, seinen Vorschuss zurückzugeben, den Fazal bereits zum großen Teil für die medizinische Behandlung seiner kranken Frau ausgegeben hatte. Die Anwohner berichteten, so die Foundation, dass viele anderen Ziegelofen-Arbeiter ihre jungen Mädchen verheiraten mussten, um die Vorschüsse zurückzuzahlen.
Zahl der Bedürftigen in Afghanistan
Die Zahl der Bedürftigen in Afghanistan ist gegenüber dem Vorjahr von 14,5 auf 18,4 Millionen Menschen gestiegen. Dies teilte die Bundesregierung im April 2021 unter Verweis auf das Büro der Vereinten Nationen (VN) für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) mit. Der humanitäre Bedarf in dem Land stieg demnach von 611,8 Millionen US-Dollar im Jahr 2019 auf 1,3 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr.
Berichte von Frauenaktivistinnen
Die Gründerin von „Women & Peace Studies Organization“, Wazhma Frogh, sagte, sie höre täglich von solchen Fällen, bei denen es oft um Mädchen unter zehn Jahren gehe. Nach ihren Worten liegen die Mitgiftbeträge in der Regel zwischen 500 und 2000 US-Dollar, wobei für jüngere Kinder höhere Summen gezahlt werden.
„Das ist keine Ehe. Es ist Kindesmissbrauch“, so die afghanische Frauenrechtlerin gegenüber der Stiftung.
Die Mädchen werden laut Frogh von afghanischen Eltern auch abgegeben, um Schulden zu begleichen. Sie verwies auf einen Fall, in dem ein Vermieter einem Mann wegen Mietschulden dessen neunjährige Tochter weggenommen hatte. Ein anderer Mann im Nordwesten Afghanistans soll nach ihren Angaben seine fünf Kinder in einer Moschee zurückgelassen haben, weil er sie nicht ernähren konnte. Die drei Mädchen, die vermutlich unter 13 Jahren alt waren, wurden noch am selben Tag verheiratet.
„Die Zahl der Fälle ist so stark gestiegen, weil die Menschen hungern. Die Menschen haben nichts und können ihre Kinder nicht ernähren. Das ist völlig illegal und in der Religion nicht erlaubt“, sagt Frogh, die mit den Aktivistinnen der Graswurzelorganisationen in ganz Afghanistan zusammenarbeitet.
Schulschließungen für Mädchen als Faktor
Dass die Taliban Mädchen den Schulbesuch nicht gestatten, veranlasste afghanische Eltern Rechtsexperten zufolge auch dazu, ihre Töchter zu verheiraten. „Die beiden wichtigsten Risikofaktoren für Kinderheirat sind Armut und der fehlende Zugang zu Bildung“, erklärte Heather Barr von Human Rights Watch, die seit mehr als sechs Jahren mit Frauen in Afghanistan arbeitet.
Nach ihren Worten kündigten die Taliban an, dass die Mädchen irgendwann wieder zur Schule gehen könnten, stellten bislang aber nicht klar, unter welchen Bedingungen. Während ihrer letzten Regierungszeit von 1996 bis 2001 wurde die Schulbildung für Mädchen komplett verboten.
Auswirkungen von Kinderehen
Mädchen, die jung heiraten, sind einem höheren Risiko von Vergewaltigung in der Ehe, häuslicher Gewalt, Ausbeutung und gefährlichen Schwangerschaftskomplikationen ausgesetzt. Davor warnte Jamila Afghani, Präsidentin der afghanischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, die landesweit rund 10.000 Mitglieder hat.
„Das ruiniert ihr Leben - ihre psychische, emotionale, physische und sexuelle Gesundheit. Diese Mädchen werden oft wie Dienerinnen, wie Sklavinnen behandelt“, sagte die Frauenaktivistin gegenüber der Foundation.
Prognose
Frogh und Afghani rechnen damit, dass sich die Zahl der Kinderehen – die auch vor der Rückkehr der Taliban weit verbreitet waren – in den kommenden Monaten beinahe verdoppeln könnte. Die aktuellen nationalen Daten zeigen, dass 28 Prozent der Mädchen in Afghanistan heiraten, bevor sie 18 Jahre alt sind, und vier Prozent – vor 15 Jahren. Dementsprechend gehen die Frauenaktivistinnen davon aus, dass bis zur Hälfte der Mädchen zwangsverheiratet werden könnten, bevor sie 18 Jahre alt werden, wenn die Krise anhält.
Reaktion der UNICEF
Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF bestätigte, es gebe glaubwürdige Berichte über Familien, die ihre erst 20 Tage alten Töchter gegen eine Mitgift für eine künftige Heirat anbieten. UNICEF erklärte, es habe ein Bargeld-Hilfsprogramm gestartet, um die Risiken von Hunger und Kinderheirat zu verringern, und stehe in Kontakt mit religiösen Führern, um Zeremonien mit minderjährigen Mädchen zu verhindern.
Position der Taliban
Bevor die Taliban Mitte August die Macht in Afghanistan übernahmen, lag das gesetzliche Mindestheiratsalter für Mädchen bei 16 Jahren und damit unter dem international anerkannten Mindestalter von 18 Jahren. Die Taliban sagen, dass sie nur die Scharia anerkennen, die kein Mindestalter vorschreibt, was Raum für Interpretationen lässt.
Lage in Afghanistan
Nach Angaben der UN-Organisationen steht das durch Dürre und wirtschaftlichen Zusammenbruch verkrüppelte Afghanistan kurz davor, zur schlimmsten humanitären Krisengebiet der Welt zu werden. Mit Beginn des Winters stehen Millionen von Menschen am Rande des Hungertodes, und 97 Prozent der Haushalte könnten bis Mitte 2022 unter die Armutsgrenze fallen.
Nach der plötzlichen Rückkehr der islamistischen Taliban an die Macht wurden Milliarden von US-Dollar an afghanischen Vermögenswerten im Ausland eingefroren und die meisten internationalen Hilfsleistungen eingestellt. Die Lebensmittelpreise wurden in die Höhe getrieben, und Millionen von Menschen sind arbeitslos oder erhalten keinen Lohn.
*Die Organisation ist wegen Terror-Aktivitäten mit UN-Sanktionen belegt